Kurzgeschichte

Das letzte, aber schöne Weihnachten!

HS-Woche, 12. Dezember 1990

 

Sie war 84 Jahre alt und fühlte sich sehr einsam – wie immer an Heiligabend. Sie war bereits so lange so allein. Und Weihnachten – das Fest der Liebe – stimmte sie traurig.

 

Niemand, der sie besuchte – außer der junge Mann vom Altendienst. Er kam immer gegen 15 Uhr und sie freute sich, jemanden zu haben, der mit ihr sprach und ihre öden Stunden etwas aufhellte. 

Im Fernseher brachten sie das gleiche wie in den Vorjahren, und es kam ihr vor, als würde sich jeder Tag in ihrem Leben genauso wiederholen wie das tägliche Fernsehprogramm. – Aufstehen – einsames Frühstück – Radio hören – stricken – vielleicht mal spazieren gehen – fernsehen – schlafen gehen. – Vielleicht sollte sie doch in ein Altenheim gehen – aber all diese Fremden dort. Hier hatte sie wenigstens Nachbarn, die sich – zwar nicht immer – aber meistens nett um sie kümmerten.

 

Da war Herr Meyer, der für sie einholte; der kleine Jan, der sie oft besuchte und mit ihr spielte; Frau Sommer, die für sie wusch und putzte. – Jeder von ihnen half ihr, wo sie konnten.

 

Doch gegen ihre Einsamkeit an Heiligabend konnte keiner etwas tun.

 

Frau Sommer war in Skiurlaub, Herr Meyer besuchte seine Schwester, und der kleine Jan verbrachte das Fest mit seiner Familie bei den Großeltern. Ihr blieb also nur der Besuch des Pflegers Arno und ihr Fernseher.  

Als dieser gegangen war, nicht ohne ihr ein kleines Geschenk überreicht zu haben und zu sagen, dass er jederzeit telefonisch erreichbar war. Mit einem "Fröhliche Weihnachten Frau Bertholds", verließ er sie.

 

Nun war sie wieder da – die Einsamkeit.

 

Sie schaltete den Fernseher ein. Es lief "Wir warten aufs Christkind". Der kleine, aber festlich geschmückte Weihnachtsbaum erleuchtete in seinem Glanz das kleine Zimmer. Der kleine Jan hatte ihn mit seinem Vater für sie gekauft. "Damit du es schön hast an Weihnachten, Großchen", hatte er gesagt. Der kleine Wirbelwind.

 

Sie war gerade ins Fernsehprogramm versunken, als es an der Tür läutete.

Ächzend erhob sie sich und öffnete.

Doch was war das – ein seltsames Leuchten erfüllte den Hausflur – und im Türeingang stand ihr Mann mit ihrer Tochter und dem kleinen Enkelsohn! – Welche Freude! Der Kleine auf dem Arm der Tochter schrie begeistert: "Oma, Oma!" Von Freudentränen übermannt, wusste sie nichts zu sagen. Doch dann fielen sie sich alle freudestrahlend in die Arme.

Es war das schönste Weihnachtsfest seit langen, langen Jahren. Der kleine Tom war begeistert über die vielen Gaben. Sie, ihr Mann und ihre Tochter hatten sich so viel zu erzählen...

 

Am nächsten Tag, als Arno bei Frau Bertholds nach dem Rechten sehen wollte, wunderte er sich, dass ihm nicht geöffnet wurde. So schloss er mit dem Ersatzschlüssel die Tür auf. Er erschrak – der Fernseher rauschte, und im großen Ohrensessel saß, in sich zusammengesunken, Frau Bertholds.

Auf ihrem Gesicht ein unsagbar glückliches Lächeln. Sie war tot.

Etwas regte sich an der Tür. Herr Meyer war vom Besuch seiner Schwester zurück. "Oh mein Gott, ist sie...?" "Ja. Am Heiligen Abend gestorben."

"Das ist schon eine komische Fügung. Vor genau 20 Jahren verlor sie am Heiligabend ihren geliebten Mann, ihre Tochter und ihren Enkelsohn, der gerade drei Jahre alt war, durch einen Autounfall. Aber sehen sie diesen glücklichen Ausdruck auf ihrem Gesicht. Nie wird jemand erfahren, was sie im Augenblick ihres Todes erlebte. Doch es muss etwas unsagbar Schönes gewesen sein..."

 

Rosemarie Peil, November 1989